Mit Autismus durch die Corona-Pandemie!

Liebe Inklusoren*innen,

die Pandemie stört die Alltagsroutinen, auf die besonders Autisten angewiesen sind. Im Video lassen wir heute Maximilian klassische Fragen an einen Autisten beantworten und hier im Text ist es Jonathan, 29 Jahre, aus Biberach an der Riß, einer Kleinstadt in Baden-Württemberg, nicht weit von Ulm, der uns am Leben mit Autismus in der Corona-Pandemie teilhaben lässt. Er arbeitet als Kommissionierer im Lager eines Großhandels für Medizintechnik, stellt Waren zusammen und packt diese ein. Während eines Aufenthalts in einer Mutter-Kind-Klinik wurde bei ihm im Alter von sieben Jahren das Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus, diagnostiziert. Die Frage: Wie empfindet er als Mensch im Autismus-Spektrum die Corona-Krise?
Jonathan’s tolle Antwort dazu: Soziale Verhaltensweisen, die viele Menschen ganz automatisch abrufen können, muss ich erst durch Beobachtung verstehen lernen, bevor ich sie anwenden kann. Vor Corona wusste ich in jeder Woche, was ich an welchem Tag und um wie viel Uhr tun werde. Ich wusste: Am Freitag bin ich abends beim Schach. Am Wochenende bin ich beim Turnier. Und am Sonntag gehe ich ins Café. Dann kam im Frühjahr die Corona-Pandemie und all diese fixen Termine brachen plötzlich weg. Das war sehr schwierig, denn Routinen sind für mich als Asperger-Autist ganz wichtig. Sie geben mir durch ihre Regelmäßigkeit ein Gefühl der Sicherheit. Es kostet mich jedes Mal viel Energie, mich an Veränderungen zu gewöhnen. Im Frühjahr brauchte ich mehrere Wochen, mich darauf einzustellen. Ich schlief schlecht und war gleichzeitig erschöpft. Ich wurde sehr still und verfiel immer wieder für mehrere Stunden am Tag ins Schweigen – Stress drücke ich nie laut aus, sondern im Stillen. Aber Leute, die mich gut kennen, haben im Frühjahr sofort bemerkt, dass mich die Zeit sehr belastet hat. Als Autist bin ich sehr empfindlich gegenüber Reizen – zum Beispiel gegenüber Stimmengewirr, aber auch schon ein sehr leises Geräusch wie das Quietschen einer Tür reicht dazu aus, dass ich abgelenkt bin. Hinzu kommt, dass die Alltagsmaske mich vor kommunikative Herausforderungen stellt: Mir fällt es nicht immer leicht, Gesichtsausdrücke richtig einzuordnen. Es hat Jahre intensiven Trainings gebraucht, bis ich die Mimik meines Gegenübers einigermaßen gut lesen konnte. Besonders schwer fällt es mir im Gesicht meines Gegenübers Gefühle zu erkennen und zwischen Ironie und Ernst zu unterscheiden. Das schwingt natürlich auch im Ton mit, wie jemand etwas sagt. Aber die Stimme kann ich noch viel weniger einordnen als den Gesichtsausdruck. Die Pandemie hat aber auch Situationen geschaffen, die meinen Alltag erleichtern. An die Abstandsregel von mindestens 1,5 Metern konnte ich mich zum Beispiel recht schnell gewöhnen – denn Abstand mag ich sowieso lieber als Nähe. Vor allem bei fremden Menschen. Vor Corona empfand ich es beim Einkaufen im Supermarkt oder im Zug auf dem Weg zur Arbeit immer wieder als unangenehm eng. Wenn mir andere so nah sind, erschrecke ich schnell über überraschende Bewegungen, die sie machen und bin stark gestresst. Jetzt, mit den geltenden Abstandsregeln, gehe ich eigentlich viel lieber in den Supermarkt und fahre lieber mit dem Zug als vor der Corona-Zeit. Auch die Alltagsberührungen fehlen mir nicht. Mich entspannt es, dass wir weniger Körperkontakt zueinander haben. Umarmungen waren mir schon immer sehr unangenehm. Selbst wenn es sich um eine*n Vertraute*n oder Bekannte*n gehandelt hat, war es für mich schwierig, eine Umarmung zuzulassen, ohne mich innerlich und äußerlich anzuspannen. Wenn mich jemand umarmt, werde ich am ganzen Körper steif wie ein Brett. Diese Körperwärme der anderen Person zu spüren, ist für mich eine totale Reizüberflutung. Es erleichtert mich, dass während Corona niemand mehr von mir erwartet, dass ich ihm oder ihr die Hand gebe. Dennoch werde ich erleichtert sein, wenn die Pandemie irgendwann wieder vorbei ist. Zwar mag ich den körperlichen Abstand, den wir momentan zueinander haben, aber insgesamt überfordert mich diese Zeit mehr, als dass sie mich zur Ruhe bringt. Ich habe permanent die Angst, dass sich die Regeln wieder verändern, dass sie lockerer oder strenger werden. Als Asperger-Autist sehne ich mich nach Klarheit und Routine und will alles richtig machen. Die sich immer wieder verändernden Regeln verunsichern mich, wie ich mich verhalten soll. Ich habe große Angst, etwas falsch zu machen und dadurch andere anzustecken, die im schlimmsten Fall sterben könnten.

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©Goldi

P.S.: Vielen, lieben Dank an Hyperbole und Makz Mac aus Hamburg https://www.youtube.com/channel/UCdoZxLWeGjEySL_LY0O_0EA für das Video und ihre tolle Rubrik FRAG EIN KLISCHEE – Eure Fragen an außergewöhnliche Menschen.